Moskauer Lektüre: Architektur trifft Schrift

Schrift und Architektur – der Blick auf einige Moskauer Baudenkmale eröffnet neue Perspektiven, auch auf den Reiz kyrillischer Typografie. Dieser Beitrag basiert auf dem Vortrag, den ich auf der A-type-Konferenz in München und der Granshan-Konferenz in Reading hielt. Der Text ist entstanden in Mitautorenschaft mit Herbert Lechner und wurde veröffentlicht in Novum.

Glockenturm Iwan der Große, gebaut 1605–1608, steht im Moskauer Kreml und war mit seinen 81 Metern über lange Zeit das höchste Gebäude der Stadt.

Den Glockenturm Iwan der Große im Kreml schmückt die kunstvolle Schrift Vjaz, eine besonders feierliche und komplizierte Variante, mit mehreren hundert Ligaturen, Verschachtelungen, Unterschneidungen, Unterordnungen eines oder mehrerer Buchstaben untereinander sowie Abkürzungen. Der Text in erhabenem Gold gibt ganz profan an, dass die Erhöhung des Turms auf Geheiß des Zaren Boris Godunov erfolgt ist.

Die Staatliche Tretjakow-Galerie liegt am rechten Ufer der Moskwa und entstand als Kunstsammlung der Tretjakow-Familie.

Lange baute man dann nach westeuropäischem Geschmack, die Schrift spielte dabei kaum eine Rolle. Das änderte sich erst, als es ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Panslawismus zur Rückbesinnung auf den eigenen russischen Baustil kam.

Ende des 19. Jahrhunderts gründeten die Brüder Tretjakow ein Museum russischer Kunst. Die Fassade der berühmten Galerie im neorussischen Stil präsentiert über die gesamte Breite ein dreizeiliges Schriftrelief in der Vjaz. Der Inhalt ist eher dokumentarisch-banal: »Moskauer Städtische Kunstgalerie von Pawel und Sergei Tretjakow. Gegründet 1856. Vererbt der Stadt Moskau 1892«.

Das Hotel Metropol am Theaterplatz im damals angesagten Jugendstil am Theaterplatz wurde 1905 eröffnet.
Die Schrift für den Keramikfries entwarf der unübertroffene Sergei Tschechonin.

Auch das Hotel Metropol ziert ein Schriftfries aus glasierten Keramik-Kacheln. Im Jugendstil des luxuriösen Hotels gehalten stand dort ein Nietzsche-Zitat: »Wenn man sich sein Haus fertiggebaut hat, merkt man, unversehens etwas dabei gelernt zu haben, das man schlechterdings hätte wissen müssen, bevor man zu bauen – anfing.«

Kein Wunder, dass diese Mehrdeutigkeit für siegreiche Bolschewiken schwer verständlich war und störte, als sie nach der Oktoberrevolution Moskau zur Hauptstadt und das Metropol zu ihrer Zentrale erkoren. So wurde Nietzsche über dem Haupteingang durch ein Zitat von Lenin ersetzt. Allerdings in der gleichen verspielt-dekadenten Typografie!

Das Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz ist das Werk des berühmten Architekten Alexej Schtschusew – im 1930 nicht mehr gefragten konstruktivistischen Stil.

Die russische Avantgarde ging einen anderen Weg. Für Agitationszwecke wählte man eine namenlose, strikt geometrische Grotesk: reduziert, einfach, volksnah, nur aus Geraden konstruiert. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz. Über dem Eingang zur Grabkammer steht »Lenin« – fünf serifenlose Versalien aus dunkelrotem Granit, eingefasst in schwarzen Labradorstein, zeitlos, perfekt proportioniert und ausgeglichen.

Unter Stalin entstand eine hochemotionale Märchen-Architektur, der sogenannte Zuckerbäcker-Stil. Man sollte an der strahlenden Zukunft schon heute teilhaben können. Die Architekten dieses sozialistischen Klassizismus bevorzugten als Schrift die Capitalis monumentalis. Doch anders als beim antiken Vorbild waren die angefertigten Lettern in Metall gegossen und erhaben.

Die Lenin-Bibliothek wurde zwölf Jahre lang von 1928 bis 1941 gebaut und erschien immer klassizistischer.
Über dem Eingang steht »Die staatliche Bibliothek der UdSSR, benannt nach Lenin«.

Die Lenin-Bibliothek war ein Prachtpalast. Die Inschrift am Eingang scheint perfekt, doch »Л« und »A« sind spiegelverkehrt montiert. Die rechten Schenkel sind dünner als die linken. Die breiten Schrägstriche sind auf der falschen Seite!

Nach Stalins Tod war der internationale Stil mit viel Glas und Aluminium auch in Moskau gefragt. Die Allee Novy Arbat demonstriert Glanz im Sinne des Modernismus. Vier Hochhäuser auf der Südseite stehen da wie riesige aufgeklappte Bücher. Ihre Funktion als Bürogebäude erlaubte eine mediale Nutzung der Fassaden. Nachts an wichtigen Feiertagen bildeten die beleuchteten Fenster einzelne Buchstaben: CCCP (= SSSR steht für die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken).

Die Neue Arbat durchschnitt 1963 brachial die alten Moskauer Viertel und wurde als das »Gebiss Chruschtschows« verspottet.

Ab 1970 folgten Jahre der Stagnation, auch für Schrift und Architektur. Auf den Dächern der Plattenbauten aus der Chruschtschow-Ära und den Stalin-Palästen wurden Standard-Schriften mit Standard-Inhalten montiert. Die Parolen wiederholten sich tausendfach und wurden zum bloßen visuellen Rauschen.

»Lenin – die Partei – das Volk« ist ein der vielen Parolen, die man überall in der Sowjetunion in den 1970er und 1980er Jahren lesen konnte.

Und heute? Da präsentiert sich das moderne Moskau wie andere Metropolen vorwiegend im globalisierten Einheitsdesign – bei Bauten wie Schriften. Großflächige Werbung überdeckt zunehmend die wechselvolle Tradition.

Moskau heute. Das neue Hochhausviertel Moskau City am linken Moskwa-Ufer.
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