Ein Buchstabe als Spiegelbild eines ganzen Landes

Manchmal genügt die Betrachtung eines einzelnen Buchstabens, um den besonderen Eigenheiten eines Schriftraumes nachzuspüren. Ja, fast lässt sich Länderspezifisches im einzelnen Buchstaben »lesen«. Die folgende Letter möge das illustrieren.

Der Text über den eigentümlichen russischen Buchstaben »Zhe« ist in Mitautorenschaft mit Herbert Lechner entstanden und wurde 2009 im Magazin »Escehaerriefte« veröffentlicht.

Das Ж ist ein typisch russischer Buchstabe. Wie kein anderer verkörpert er in seiner Form die ganze fatalistische Zufriedenheit des russischen Geistes. Auf seinen drei Beinen ruht er, und nichts, so scheint es, kann ihn aus dieser stoischen Ruhe bringen.

Als der griechische Mönch Kyrillos im 9. Jahrhundert am neuen Alphabet für die bekehrten Slawen feilte, bereitete ihm dieser Buchstabe die meisten Kopfschmerzen. Während andere kyrillische Formen auf den griechischen Minuskeln seiner Zeit basierten, fehlte der barbarische weiche Zischlaut Ж [zhe] sowohl im Griechischen als auch im Lateinischen. Mit dem Ж entstand ein Buchstabe, der das ganze Missverständnis und die Verwirrung bei der Übertragung bekannter Formen in fremde Alphabete widerspiegelt.

Ein durchkreuztes I – als Symbol der Kapitulation vor der Fremdartigkeit? Ein sechsbeiniges Käferchen? Auf den ersten Blick sieht Ж aus, als könnte man den Buchstaben K einfach spiegeln. Doch das funktioniert nicht, die »lateinische« Mitte wäre zu tief.

Ж ist zudem ein sehr breiter Buchstabe. Im gesamten Schriftbild könnte sich seine Breite unharmonisch auswirken. Dabei bereiten gerade die Serifen an den unteren Schenkeln Probleme: Sie könnten sich berühren und werden deswegen leicht verkürzt. Oder man greift zu der russischen lyrischen Lösung: Man zeichnet geschwungene obere und untere Schenkel, die unteren ohne Serifen, die oberen enden dagegen in einer Tropfenform oder einem Fähnchen.

Es scheint, als hätten kyrillische und lateinische Schriften viel gemeinsam. Westliche Typografen trauen sich deshalb ans Kyrillische heran. Doch beim Entwerfen bemerken sie unterschwellige unlogische Details und widersprüchliche Formen. Sie beginnen, an der Lesbarkeit der Typen zu zweifeln, und wollen ihren slawischen Kollegen unter die Arme greifen. Sie versuchen, diese Schrift mit Logik anzureichern, sich über die Proportionen hinwegzusetzen, hier und da ein paar Unter- und Oberlängen einzubauen. Sie meinen es gut – und ernten den Zorn russischer Typografen! Die Russen halten an ihrer »unperfekten« Schrift fest, weil sie sie lieben. Vielleicht, weil gerade das »Unperfekte« das Eigentümliche und Liebenswerte des russischen Lebens wie nichts anderes widerspiegelt.


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