Kleine Schriftgeschichte. Teil IV. Schrift für Proletarier

In den nächsten zwei Jahrhunderten entwickelte sich die Kyrillische Schrift nur sehr langsam. Es fehlten ein Markt und Wettbewerb. Der Staat nutzte das geschriebene Wort für die Popularisierung seiner eigenen Ideen (denken Sie allein an die moralisierenden Märchen von Katharina der Großen) und war geneigt, wenn etwas nicht genehm war, privaten Verlegern sofort die Lizenz zu entziehen. Ohne Wohlwollen des Staates, allein im Vertrauen auf den schwachen Markt, waren Investitionen in Schrift ein zu risikoreiches Unterfangen. So konnte kein Stand selbstbewusster und unabhängiger Schriftentwerfer, Setzer und Drucker entstehen. Es gab einzelne bemerkenswerte »Schriftereignisse«, jedoch nur von oben verordnet und finanziert.

Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Entwicklung freier Markwirtschaft wuchsen der Bedarf und das Angebot an Schriften. Viele Akteure mit internationalen Verbindungen traten auf den Markt: Reveillon, Lemans, Wolff, Bertelsmann.

Die nächste »Große Schriftrevolution« fand 1918 statt. Der regierende Rat der Volkskommissare verabschiedete am 17. Oktober 1918 das Dekret über die Einführung einer neuen Orthographie. Man reduzierte die Buchstabenzahl von den ursprünglichen 43 auf die heutigen 33 und passte die Rechtschreibung entsprechend an. Der Wahrheit halber muss man anmerken, dass die Schreibreform bereits seit 1904 in Vorbereitung war.

Demonstration zur Unterstützung des roten Terrors. Das Banner ist schon in neuer Orthografie geschrieben. Petrograd, 1918.

Für die Sowjets war es leicht, die kontrovers diskutierte Schriftreform durchzusetzen. Einfache Bürger erfuhren von der Umwälzung ihrer Schriftkultur von Plakaten, die über Nacht auf allen Litfaßsäulen der Großstädte angebracht worden waren.

Eines der ersten Dekrete der Sowjets über die Einführung einer neuen Orthographie, 1918.

Die Umsetzung des Beschlusses ging schnell und ohne Verzögerung voran: Alle Großdruckereien wurden von Bolschewiken enteignet, alle Bleilettern mit den abgeschafften Buchstaben eingeschmolzen. Unkundige Revolutionäre verwechselten das erlaubte Hartzeichen mit dem verbotenen Jat’ und beschlagnahmten es gleich mit. So waren die Setzereien gezwungen, anstelle des Hartzeichens ein Apostroph zu setzen. Diese Praxis konnte man noch in vielen Büchern späterer Zeit antreffen.

Die Schriftreform bewirkte eine kulturelle Trennung von den alten Zeiten und signalisierte klar: Es gibt kein Zurück mehr. Die in alter Typografie gesetzten Bücher wirkten antiquiert und wurden kurze Zeit später zum Anlass für Verhaftung und Tod. Fachliche Auseinandersetzungen über Schriftdetails, Pro und Contra, gab es nicht: Mit einem Revolver auf der Brust vermochte niemand zu diskutieren.

Regionalzeitung »Stimme der Wahrheit« von 1918 mit neuer Rechtschreibung. Bemerkenswert ist die Schriftmischung: klassizistische Antiqua für Mengentext, Jugendstil-Schriften für Auszeichnungen.
Omsker »Rabotschij Put’« von 1927. Interessant ist die mutige dynamische Illustration auf der ersten Seite. Die Überschriften sind in Versalien gesetzt.
Nächster Artikel Vorheriger Artikel