Kleine Schriftgeschichte. Teil III. Reformen mit einer Zimmermannsaxt
Peter der Große (1672–1725, regierte ab 1682) war der erste Zar, der ins Ausland reiste. Dort erlitt er einen Kulturschock. Alles war in Europa besser, bunter, fortschrittlicher. Die Schlagwörter seiner Politik wurden Wissenschaft und Technik. Dafür benötigte er neue Bücher über Schiffs- und Bergbau, Mathematik, Militär- und Ingenieurwesen. Eine neue Schrift musste her!
Peter war nicht der erste, der sich anstellte, die Schrift zu reformieren. Der französische König Ludwig XIV. ließ eine sogenannte Königliche Antiqua (Romain du Roi) entwerfen. Doch im Unterschied zum russischen Zar betraute der französische Monarch mit der Aufgabe Experten, die gute neun Jahre Zeit hatten. Das war nichts für Peter. Der ungeduldige und zum Jähzorn neigende Reformator griff ohne große Berührungsängste selbst zur Feder, vereinfachte die kyrillischen Buchstaben und passte sie dem lateinischen Alphabet an. Grundsätzlich war der Zar der Meinung, er könne alles besser selbst. Und so kritzelte er zwischen Schiffsbau und Zähneziehen an Buchstabenskizzen herum.
Seine Entwürfe ließ Peter von einem technischen Zeichner in Festanstellung, Dipl.-Ing. Kuhlenbach, reinzeichnen. Der Deutsche erledigte den Auftrag detailgetreu und pflichtbewusst, aber ohne wirkliches Verständnis für Schriftkonstruktion und vermutlich der russischen Schriftsprache nicht einmal mächtig. Die Entwürfe gingen nach Amsterdam. Dort ließ man passende Bleilettern anfertigen: unsinnig in der Form und absurd im gegenseitigen Bezug. Einige Lettern erfuhren Formübernahmen aus lateinischen Antiqua-Schriften. Viele ursprünglich russische Formen wurden durch holländische Fachmänner falsch interpretiert. Fachkundige russische Untertanen nahmen dies stillschweigend hin.
Auf Einladung des Zaren trafen vier Jahre später holländische Drucker mit ihrer Druckerpresse ein, um finale Korrekturen vor Ort auszuführen. Seinen Landsmännern traute Peter offenbar nicht allzu viel zu. 1708 erschien das erste Buch mit neuer Schrift: Geometrie slawischer Erdvermessung.
Die Arbeit an der Schrift wurde auch nach der Veröffentlichung des ersten Buches fortgesetzt. In der letzten Korrekturschleife – Es klappte mal wieder nicht mit den Kleinbuchstaben! – und ermüdet durch eintöniges Herumwerkeln griff der Zar bei Minuskel-Entwürfen schnell auf bereits feststehende Majuskel-Formen zurück. Zack, fertig! Und so kam es, dass 25 von 33 Kleinbuchstaben heute genauso aussehen wie die entsprechenden Großbuchstaben.
1710 wurde die Arbeit an der modernen Schrift abgeschlossen. Das russische Alphabet verkleinerte sich von 45 auf 38 Buchstaben. Die neue Schrift – entstanden im Geist der holländischen Barock-Antiqua – trug den Namen Bürgerlich. Das klingt heute eher ironisch. Der despotische Zar hatte wenig Verständnis für Bürgerrechte und Menschenwürde. Gemeint war die säkulare Verwendung der Schrift im Gegensatz zur Verwendung der Halbunziale für religiöse Literatur.