Kleine Schriftgeschichte. Teil I. Wie alles begann

Die Geschichte des Kyrillischen begann im 9. Jahrhundert: Das Oströmische Reich sah sich als Hirte der slawischen Völker und sendete zwei Missionare zur Unterweisung im neuen Glauben. Von Konstantinopel aus zogen zwei griechische Mönche, die Brüder Kyrillos (827–869) und Methodios (815–885) nach Osteuropa, und zwar nach Mähren im heutigen Tschechien.

Die Brüder Kyrillos und Methodios mit ihren Schülern. Wandgemälde im Kloster Sveti Naum, Nordmazedonien.

Kyrillos und Methodios übersetzten die Bibel und entwickelten eine eigenständige slawische Buchschrift. Eine revolutionäre Tat, wenn man bedenkt, dass die weströmische Kirche für Liturgie und Bibelübersetzung nur Latein, Hebräisch und Griechisch akzeptierte. »Barbarische« Sprachen lehnte sie ab und bekämpfte aus dieser Haltung noch 650 Jahre später Martin Luther.

Doch Kyrillos entwarf nicht die kyrillische, sondern die glagolitische Schrift oder Glagoliza. Als Formquelle für das neue Alphabet dienten griechische Majuskeln byzantinischer Prägung sowie armenische, georgische und aramäische Schriftzeichen für die Laute, die es im Griechischen nicht gab.

Die Glagoliza. Tafel von Baška mit Inschrift in kirchenslawischer Sprache, Kroatien 1100.
Das Jaharis-Evangelium, Konstantinopel 1100. Der Bezug der Glagoliza zur griechischen Handschrift in seiner byzantinischen Form ist nicht zu verkennen.

Das echte Kyrillisch entstand erst hundert Jahre später in Bulgarien (bei der Namensgebung blieb das Mitwirken Methodios unberücksichtigt). Die neue Schrift war – geprägt durch frühgotische Buchhandschrift – ein wahres Kind seiner Zeit, in der man gedrängter schrieb und die Buchstabenbögen brach. Die russischen Buchstaben wiederholen die schmalen Formen, man schrieb sie jedoch mit einem deutlicheren Abstand zueinander.

Das Ostromir-Evangeliar stammte aus Nowgorod 1056/57. Die Handschrift wurde für den Nowgoroder Statthalter Ostromir angefertigt.
Zum Vergleich: Mainzer Psalter. Gedruckt von Johannes Fust und Peter Schöffer, 1457.

Doch Kyrillisch wurde auch geprägt vom feierlichen Geist der Capitalis rustica, die noch im Mittelalter als feierliche Auszeichnungsschrift in Gebrauch war. So wie sich das Byzantinische Reich als wahrer Nachfolger Roms sah, trug Kyrillisch geometrische oströmische Grundformen (griechische Majuskeln) in sich. Bedenken Sie, dass es sich dabei nicht um das kleine Griechenland handelt, sondern um ein gewaltiges tausendjähriges Reich, dessen Lingua franca Griechisch war. Bücher als Denkmal dem Wort Gottes wurden langsam geschrieben und langsam gelesen. Man strebte nicht nach Effizienz und verbesserter Lesbarkeit.

Zum Vergleich: Römische Handschrift Capitalis rustica mit Texten Vergils, 5./6. Jahrhundert.

Die entstandene Schrift kannte keine formvollendeten Proportionen der Römischen Capitalis und keine schwungvollen Minuskeln Karls des Großen. Demzufolge konnten für Kyrillisch keine antiken Schriftformen »wiederentdeckt« werden und es konnte keine »natürliche« Antiqua entstehen.

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