Fremde Länder — fremde Zeichen

Ob in Berlin, Kairo, Moskau oder Tel Aviv – zuhause ist man heute überall. Unterwegs zu sein ist alltäglich geworden. Ein Auslandsaufenthalt gehört in jeden ernstzunehmenden Lebenslauf und in weit entfernten Eckchen der Erde trifft man die selben Marken: Coca-Cola, BMW, Hugo und Boss. Marken wie Menschen sind in die große weite Welt gezogen. Sie kleiden sich in exotische Gewänder fremder Sprachen und werden zum Symbol der Globalisierung. Fremde Schriften verleihen der Marken einen Siegeskranz und faszinieren durch ihre Fremdartigkeit.

Begeistert übernehmen Kommunikations- und Designexperten die herausfordernde Aufgabe, die Marke in eine andere Welt zu transferieren. Motiviert, aber ohne Fachwissen. Zuversichtlich, aber nicht einmal lesekundig. Eingebildet, aber auch ungebildet. Analphabetische Prediger ziehen los mit ihrer Botschaft in aller Herren Länder.

Doch jede Schrift entwickelt sich im Kontext einer Sprache und ist ihr grafischer Ausdruck. Die Typografie berücksichtigt die ästhetischen Bedürfnisse und Lesegewohnheiten der Sprachträger und ist Bestandteil einer nationalen Kultur. Den Berufs-Globestrottern bleibt der Zugang zu spezifischen Formproportionen und Harmonien verwehrt. Sie sind an diesem Wissen auch gar nicht interessiert. Sie hüpfen schon weiter zum nächsten Auftrag internationaler Dimension.

Welche Schrift hat Qualität? Welchen Zeilenabstand braucht der eine oder der andere Schriftschnitt? Welche Buchstabenform ist authentisch? Solche Fragen stellen sie sich bei internationalen Aufträgen meistens nicht. Dabei haben die Länder, in denen sie gebürtig tätig sind, selbst eine reiche Schriftkultur und lange Schrifttradition.

Kyrillisch unter der Lupe

Kyrillische Schrift ist für Westeuropäer ein guter Nachbar. Bekannt durch die räumliche Nähe und unbekannt, weil man nie Zeit gefunden hat, ihn wirklich kennenzulernen. Es scheint, als hätten kyrillische und lateinische Schriften viel gemeinsam. Schnell und unbekümmert trauen sich westliche Schriftdesigner deshalb an kyrillische Schrift heran. Doch lassen Sie uns mal einen kyrillischen Text genauer betrachten. Kann man kein Russisch, wirkt das Schriftbild erstmal fremd.

Zitat von Leonardo da Vinci. Gefunden bei Artjom Lebedev www.artlebedev.ru. Gesetzt in der Open-Licence-Font PT Serif von Vladimir Yefimov, Paratype. www.paratype.ru

Auf den zweiten Blick fallen dann schon eine Menge Buchstaben auf, die vertraut sind.

Markiert sind die Buchstaben, die wie lateinische Schriftzeichen aussehen, aber anders ausgesprochen werden.

Einige Buchstaben ähneln lateinischen Schriftzeichen, weichen jedoch in der Form ein wenig ab.

Die markierten Buchstaben sind ungewohnt konstruiert, wirken aber immer noch vertraut.

Und es gibt viele Buchstaben, deren Formen man nicht kennt und welche die kyrillische Schrift herrlich exotisch erscheinen lassen.

Die markierten Buchstaben erscheinen eigenwillig und unlogisch konstruiert. Für westliche Schriftdesigner stellen sie eine echte Herausforderung dar.

Bei der Arbeit an kyrillischer Schrift stoßen westliche Schriftgestalter schnell auf vermeintlich unlogische Details und widersprüchliche Konstruktionen. Das russische Alphabet verfügt über weit weniger Buchstaben mit Ober- und Unterlängen als lateinische Schriften und wirkt insgesamt ruhiger. Es gibt viele Buchstaben mit vertikalen Grundstrichen. Wie Kapitälchen reihen sich die strammen Russen aneinander. Westliche Schriftdesigner bezweifeln die gute Lesbarkeit des russischen Alphabets und verschmähen die »unperfekte« Schrift.

Liebe zur unperfekten Schrift

Doch russische Leser halten an ihrer Schrift fest! Sie lieben sie und können sie flüssig lesen — ungeachtet verbreiteter Theorien, dass man Wortbilder liest, sie ihre Bedeutung durch Wortumrisse erschließt und dafür prägnante Ober- und Unterlänge als Unterscheidungsmerkmal benötigt. Russische Leser buchstabieren ihre Schrift nicht, sondern erfassen nacheinander Wortteile, ganze Worte oder Wortgruppen, indem sie den Rhythmus der Linien innerhalb der X-Höhe sowie die seltenen und dezenten Über- und Unterlängen sensibel registrieren. Wenn man die Schriften wie Farben vergleicht, so ist Latein kontrastreich und bunt, Russisch dagegen entfaltet seine Wirkung durch subtile Schattierungen und Zwischentöne.

Man muss sich nun fragen, wie es zum eigenwilligen Schriftbild des Kyrillisches kommt. Hierzu bedarf es eines kurzen historischen Exkurses.

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